Mythen und Fakten im Audio Business. Wollen Musikhörer wirklich „betrogen“ werden?

Erstellt von:
23 Oktober 2015
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Christian Wenger wirft in seinem Blogpost (avguide.ch/Der Authenzitäts-Frust – Sollen Lautsprecher nichts beschönigen?)  „Der Authenzitäts-Frust“ auf avguide.ch die die These auf, dass immer mehr HiFi-Fabrikanten sich der reinen Wahrheit verpflichten und munter an den emotionellen Bedürfnissen der Musikhörer vorbei entwickeln. „Wahrheit oder Schönheit?“ ist der Kern des Beitrages und die Feststellung, dass der Musikhörer sich eher für einen schönfärberischen Klang entscheidet. Wahrheit sei nicht gewünscht! Wenger zieht folgerichtig den Bogen von der Aufnahme über unsere Konzerterfahrung, unsere subjektive Hörwahrnehmung hin zu unseren Erwartungen bei der Wiedergabe zu Hause.

Soweit so gut – nur wollen die Endkunden wirklich Ware die Ihnen ein X für ein U vorgaukelt?  Als Repräsentant eines „HiFi-Fabrikanten“ in unserem Land, bin ich vertraut mit den Entwicklungszielen und Ansprüchen unseres englischen Mutterhauses. Wenn ich nun lese, dass wir an den emotionellen Bedürfnissen unserer Kunden vorbeientwickeln, dann lässt das aufhorchen, zwingt zur Reflektion. Auch ich bin Musikliebhaber, habe eine grosse Sammlung an Aufnahmen, höre intensiv Musik und habe notabene über die Jahre hinweg auch meinen Standpunkt über den richtigen Klang entwickelt.

Die Frage ist, welches Klangideal sucht der einzelne Musikliebhaber, nach welchen Massstäben urteilt er, nach welchen Massstäben muss oder sollte ein Audio Entwickler seine Produkte konzipieren. Die Auffassung von John Bowers war das Wenigste von der Musik zu verlieren. Punkt. Ein System soll die Aufnahme akkurat – ohne was hinzuzufügen oder wegzulassen – reproduzieren. Eine schlechte Aufnahme klingt dann schlecht und eine gute Aufnahme erzeugt ihre Faszination.

Betrachten wir das Thema mal aus verschiedenen Blickwinkeln:

  1. Produktenwicklung
  2. Wahrnehmung eines Live Konzertes, individuelle Perzeption
  3. Hörgewohnheiten
  4. Situation bei der Musikaufnahme, Nachbearbeitung im Studio (Mischen und Mastern)
  5. Mythen bewirtschaften, Mythen entlarven

Ziele bei der Produktentwicklung

Welche Ziele verfolgen die Bowers & Wilkins Entwicklungsingenieure in England, was treib sie an, was wollen sie erreichen? Betrachten wir die soeben auf den Markt gebrachte neue 8oo Diamond Serie (D3). Die bisherige Diamond Serie (D2) spielte bereits auf hohem Niveau. Der Anspruch für die D3 Serie war „Das Beste noch besser machen“. Wie erreicht man das bei einem Produkt das nirgends einen groben Fehler hat, den man mal eben beheben könnte? Man Überprüft das ganze System auf kleinste Unregelmässigkeiten und versucht diese gesamthaft durch neue Konzepte, Technologien oder Materialien zu beheben.

Video zeigt Schwingungsverhalten der Rohcell (D2) und Aerofoil (D3) Membrane

Greifen wir ein Beispiel aus den 868 Änderungen die in die 800 D3 Serie hineingeflossen sind heraus: Die Bass Membrane. Sie sollte beim Schwingen einen perfekten Kolbenhub ausführen, eine Impulsantwort verzögerungsfrei und ohne Nachschwinger ausführen. In der Realität verformen sich die Konen, hat die Membrane auf Grund der Massenträgheit ein verzögertes Ansprechverhalten und schwingt mehr oder weniger nach, wenn der Impuls vorbei ist.

Wir sehen bei der 800 D2 Rohacel Membrane nur noch wenige Verformungen,  die Klangverfälschungen erzeugen. Ziel der Bowers & Wilkins Ingenieure war, selbst diese kleinen Verformungen zu reduzieren, denn sie fügen dem Originalsignal Energieanteile zu, die ursprünglich nicht vorhanden waren. Wir erinnern uns: Nichts hinzufügen, nichts weglassen ist der Grundsatz.

Antithese – nach Christian Wenger müsste der Grundsatz somit lauten: Man nehme einen repräsentativen Querschnitt aus guten und schlechten Musikaufnahmen und entwickelt ein Produkt, das alles nivelliert und wohlklingen lässt.

Wahrnehmung eines Live Konzertes, individuelle Perzeption

Oft wird in Testberichten oder Gesprächen die Performance eines Audio Systems oder Produktes als „wie im Live Konzert“ beschrieben. Nun was hören wir in einem Live Konzert in Bezug auf Klangästhetik? Wie nehmen wir einzelne Instrumente und Stimmen wahr? Ein Klassik Konzert im KKL Luzern oder der Berliner Philharmonie unterscheidet sich dabei stark von einem Pop Konzert im Hallenstation oder in der Sumpflandschaft eines Open Airs. Das Ambiente und die Akustik in einem Jazz Club bietet wieder eine andere Hörkulisse. Sind all diese Events eine Referenz zur Beurteilung einer Musikaufnahme? Die Antwort reicht von knapp möglich über teilweise bis hin zu unmöglich. Selbst bei einem Klassik Konzert, welches die natürlichste Klangkulisse bietet, ist der Anspruch einer Klangreferenz nur beschränkt möglich. Denn wo die Mikrofone bei der Aufnahme stehen, kommen die wenigsten Ohren der Konzertbesucher hin. Der Grossteil sitzt ausserhalb des Hallradius, hört mehr Indirekt- als Direktschall, nimmt ein anders Obertonspektrum wahr als die Zuhörer in den ersten Reihen des Konzertsaals.

These: So (präzise) wie zu Hause kann es im Konzertsaal nicht gehört werden. Die Konserve bildet nicht das Hörerlebnis am durchschnittlichen Hörplatz im Saal ab, sondern kreiert eine eigenständige Klangästhetik, bildet eine andere Wirklichkeit ab. Quasi eine akustische Lupe, sie ist eine sprichwörtliche Nahaufnahme, die Details einfängt die unsere Ohren nur ansatzweise am entfernten Hörplatz erreichen.

Ich habe mich schon immer gegen den Vergleich Live Konzert vs. Konserve gewehrt, da völlig unterschiedliche Aspekte miteinander verglichen werden. Hier ein integrales Erlebnis von akustischen und optischen Sinneswahrnehmungen, verbunden mit einer gesellschaftlichen Komponente, da eine rein akustische Wahrnehmung – ohne jegliche Ablenkung oder Bereicherung durch andere Sinnesorgane (im Idealfall).

Hörgewohnheiten

Unsere Hörerfahrung wird über Jahre von Liveerlebnissen und der Musikwiedergabe über das heimische Audio System geformt.  Es ist leicht nachvollziehbar, dass sich so eine Prägung und Erwartungshaltung einstellt, die bei der Bewertung von Audio Systemen immer präsent ist. Daraus leitet sich dann die Präferenz für ein bestimmtes Klangbild ab und beeinflusst somit stark die Beurteilung der HiFi-Komponenten. Die eigene Wahrnehmung kann einem allerdings gehörig einen Streich spielen. Dies trifft auf Hören und Sehen im gleichen Mass zu. Hier zwei Beispiele aus der optischen Wahrnehmung.

muller-lyer-grafik

Bei der Müller-Lyer-Illusion wird die horizontale Linie des unteren Doppelpfeils vom Auge als kürzer wahrgenommen als die Obere. Beide Linien sind aber gleich lang. Es handelt sich um eine optische Täuschung. Ebenso sind die beiden dicken, senkrechten Linien in linken Bild  beide gleich lang.

Die Wahrheit ist somit nicht zwangsläufig die äussere Realität sondern vielmehr die innere Verarbeitung eines akustischen oder optischen Reizes/Stimuli. Diese Verarbeitung kann durch Wissen oder Unwissen, durch Suggestion oder Manipulation, durch Vorurteile oder Fremdurteile verzerrt werden.

Situation bei der Musikaufnahme und Nachbearbeitung im Studio (Mischen und Mastern)

Die Aufnahme- und Nachbearbeitungssituation definieren die akustische Qualität einer Musikeinspielung. Siehe Blogs (Perfekte Raumaufnahme – Über unverfälschte Musikwiedergabe) / (Verstümmelte Musik: wie Dynamikkompression und Datenreduktion die Musik verändern). Diese ist bei Pop und Klassik Aufnahme diametral anders, was wiederum Komponentenwahl und Aufstellung der Lautsprecher im Raum bis zu einem gewissen Grad beeinflusst.

Mythen bewirtschaften, Mythen entlarven

Mythen haben einen Vorteil: sie sind meist einfach zu verstehen, geben eine klare Antwort, auch wenn diese falsch ist. Mythen finden wir überall im Leben, in der Geschichte, der Politik und nicht zuletzt auch in der Technik – besonders der High-End-Audiotechnik. Gewisse Audiomythen halten sich hartnäckig, trotz mathematisch technischen Fakten. Christian Wenger benutzt in seinem Blog den Mythos „Emotionen“ und transportiert damit die Befürchtung, die HiFi-Hersteller hätten nur emotionslose Produkte im Sinn, welche ausschliesslich der Wahrheit verpflichtet seien. Zumindest wird dies in den Prospekten und Warenpräsentationen häufig reklamiert, wie er richtig bemerkt. Wahrheit und Wahrnehmung haben nicht zufällig den gleichen Wortstamm. Und wie wir gesehen haben, kann die Wahrnehmung schnell trügen und auch durch Dritte durchaus beeinflusst oder manipuliert werden.

Ein technisches Produkt wie ein Lautsprecher oder Verstärker kann mit Begriffen wie Emotionen oder Wahrheit nicht objektiv beschrieben werden. Einzig technisch mathematische Kriterien lassen eine reproduzierbare Aussage zu ob zum Signal Elemente dazu gefügt oder entfernt wurden. Allerdings zerlegen technische Daten eine komplexe Materie in einzelne Parameter, die das Gesamte immer nur aus einem einzigen Blickwinkel abstrakt beurteilen. Ohne fundierte Kenntnisse sind solche Werte für den Laien nicht wirklich fass- und interpretierbar. Dann nehmen wir Mythen und Reduktionen zu Hilfe. Die Marketingabteilungen haben einen ganzen Mythenbaukasten, den sie eifrig benutzen.

Wie kommen wir raus aus dem Dilemma

Hören sie hin aber benutzen Sie ihren Verstand ebenfalls. Seien Sie selbstkritisch und werfen Sie ruhig mal ihren festgefahrenen Standpunkt über den Haufen. Stellen Sie kritische Fragen – sich selbst und ihrem Fachberater. Hören Sie in verscheiden Aufnahmen und Genres hinein. Ja – eine schlechte Aufnahme klingt umso schlechter, je besser die Wiedergabekette ist. Ob das dann eine Ausrede des Anbieters ist, lässt sich leicht überprüfen: eine gute Aufnahme muss dann umso besser klingen: detailreich, tonal ausbalanciert mit präziser Ortbarkeit der Instrumente, überzeugender Breiten- und Tiefenstaffelung.

Emotionen entstehen wenn die Erwartungshaltung erfüllt wird, Genuss sich einstellt. Und die Erwartungshaltung ist letztendlich subjektiv. Somit muss jeder Musikliebhaber selbst entscheiden ob er ein präzises Audiosystem will oder eines mit schmeichelhaften Fehlern. Präferenz für Präzision oder Verfärbung?

Stichwort DSP – Christian Wenger hat es am Ende erwähnt. Ich werde in einem weiteren Blog auf die Möglichkeiten moderner DSP-Technologie zur (subjektiven) Klangkorrektur eingehen.